Unsere Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne
«Eines erbitte ich von dem HERRN, nach diesem will ich trachten: dass ich bleiben darf im Haus des HERRN mein ganzes Leben lang, um die Lieblichkeit des HERRN zu schauen und ihn zu suchen in seinem Tempel.» Psalm 27,4
«Ich möchte vertraut sein mit dem Ort, wo der Herr ist!» Das ist wohl der Gedanke eines jeden Herzens, dem Jesus kostbar ist. Und wie es bei David war, so ist es auch heute noch der innigste Wunsch des Gläubigen, der den Herrn wahrhaft liebt, beständig in Seiner Gegenwart zu sein. «Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Lande ohne Wasser
- gleichwie ich dich angeschaut habe im Heiligtum
- um deine Macht und deine Herrlichkeit zu sehen.» (Ps. 63,1.2).
Es ist merkwürdig, wie langsam wir lernen, dass diese schöne Erde für denjenigen, der himmlische Dinge gekostet hat, wirklich nur ein dürres und trockenes Land ist. Ja, so zerstreute und langsame Schüler sind wir, dass der Herr uns oft das für den natürlichen Menschen so Angenehme und Anziehende hienieden wegnehmen muss, damit wir Zeit bekommen, uns mit Ihm zu beschäftigen.
Wir können Gottes Macht und Größe in der Natur sehen, und nicht weniger deutliche Spuren von Ihm auch in der Geschichte der Welt und einzelner Völker und Menschen finden. Wollen wir aber die Schönheit und Herrlichkeit des Herrn erkennen, so müssen wir in Seinem Tempel danach forschen und Ihn im Heiligtum sehen, wo Er sich ganz geoffenbart hat und der Wohlgeruch des Namens Jesu alles durchdringt. Durch das Blut Jesu haben wir Freimütigkeit, dort einzutreten. Dort lernen wir nicht nur Gottes Werke, sondern Ihn selbst kennen. Wir erfahren nicht nur, was Er getan, sondern warum Er es getan hat. Wir lernen nicht nur, was Seine Gnadenvorsätze waren, sondern auch aus welcher Quelle sie flossen. Da beten wir an. Das Herz überfließt von Freude, wenn es verstehen lernt, wie Gottes Herz gegen uns gesinnt sein muss, wenn Er so sehr wünschte, uns bei sich zu haben, und es sich so viel kosten ließ, uns für Seine Gegenwart passend zu machen. Mich nur vor Kummer und Schmerz zu schützen und meinen Weg durch die Welt so leicht wie möglich zu gestalten, hätte Seiner Liebe nicht genügt. Nein, Sein Vorsatz der Liebe war der, mich bei Sich zu haben, mich an dem Ort einheimisch zu machen, wo alles Licht und Liebe ist, und mich glückselig zu machen in dem Bewusstsein, dass ich Ihm teuer bin.
Christus, Sein geliebter Sohn, ist unser Leben; Er ist dessen Quelle, Erhalter und Gegenstand. Je weiter wir auf unserem Wege vorangehen, desto mehr fühlen wir, wie sehr wir Ihn in jeder Beziehung nötig haben. Nicht am Anfang seiner Laufbahn, sondern als seine Reise sich bald ihrem Ende näherte, sprach Paulus von seiner tiefen Sehnsucht, «Ihn zu erkennen». Seine Umstände waren derart, dass er wahrlich manches zu wünschen gehabt hätte. Aber der Gefangene im Herrn dachte weder an Ehre, noch an Bequemlichkeit, noch an die Güter dieser Welt, was er doch alles entbehren musste. Sein Herz begehrte Christum und nur Christum.
Gemeinschaft mit Gott ist nicht eine bloße Lehre, sondern eine lebendige Tatsache, nicht ein bloßes Gefühl, sondern Wirklichkeit. Sie ist nichts weniger als Übereinstimmung mit dem lebendigen Gott in unsern Gedanken und Empfindungen. Gemeinschaft bedeutet: fleißiger Verkehr mit Ihm. Haben wir dies verstanden, so fragen wir uns in Aufrichtigkeit: Ist unser Leben und Benehmen durch diese Gemeinschaft mit Gott beeinflusst und auf welche Weise? Oder könnten wir den Gedanken ertragen, eine Woche ohne diese Gemeinschaft mit Gott zu leben? Dass doch der Verkehr mit Ihm die tägliche Freude unseres Lebens wäre!
Es hat Männer gegeben, welche die Welt in Erstaunen setzten durch wochenlanges Fasten. Aber ich glaube, die Engel haben manchmal auch Ursache zum Staunen, wenn sie sehen, wie viele Gläubige oft Tage lang dahingehen können, ohne das Brot des Lebens nur zu begehren.
Persönlicher Verkehr mit Gott allein kann uns in geistlicher Gesinnung erhalten. Weder Fortschritte in der Erkenntnis, noch Eifer in der Arbeit für den Herrn können ihn ersetzen, noch das in uns hervorbringen, was Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne bei uns zu bewirken vermag.
Nichts konnte bei dem Herrn Jesus dieses beständige Sich-Aufhalten in des Vaters Gegenwart unterbrechen. So stürmisch es auch um Ihn her sein mochte, in Seiner Seele herrschte die Ruhe Gottes. Selbst als Er wusste, dass die Leiter Seines Volkes über Seinen Tod beratschlagten, redete Er zu Seinen Jüngern noch von der Freude und dem Frieden, die Er ihnen geben wollte.
In bezug auf welche Dinge pflegst du diese Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne? Du findest diese Frage vielleicht sonderbar. Aber sie ist wichtig; gehe nicht an ihr vorbei! Es ist möglich, dass wir bei einigen Dingen ganz in die Gedanken des Herrn eingehen, während wir gegenüber anderen, die Ihm ebensosehr am Herzen liegen, völlig gleichgültig sind. Prüfen wir uns, ob wir nicht vielleicht Dinge, die für Ihn von hohem Wert sind, geringschätzen, und andern, die in Seinen Augen wertlos, ja vielleicht ein Greuel sind, einen hohen Wert beilegen. Wir sollten uns nie mit irgend einer Verschiedenheit der Gedanken zwischen Gott und uns abfinden.
Ich möchte, dass der Herr auf meine Teilnahme rechnen könnte bei allem, was Ihm wichtig ist. Was irgend Seiner Aufmerksamkeit wert ist, verdient gewiss die meinige auch. Welch ein Gefühl der Gnade sollte es uns geben, dass wir von so etwas überhaupt reden dürfen. Aber wenn der Herr uns in Seiner Herablassung Seine Freunde nennt, so sollten wir keine größere Freude kennen, als in jener Übereinstimmung der Gedanken mit Ihm zu sein, welche man in diesem Verhältnis gegenseitig erwartet und sucht.
Die Ratschlüsse und die Zuneigungen des Vaters vereinigen sich alle in dem Sohne. Und wenn Er mit vollkommener Befriedigung auf den Geliebten schaut und sagt: «An Ihm habe ich Wohlgefallen gefunden», kann der Gläubige seinerseits aus Herzensgrund sagen: «Alle meine Quellen sind in Ihm.» Jesu Lebenszweck war, den Menschen den Vater zu offenbaren. Er möchte, dass wir den Vater kennen, wie Er Ihn kennt. Mit heiliger Freude sprach Er von Seines Vaters Haus, von Seiner Liebe und Seiner Herrlichkeit, in die Er sein Volk einführen wollte. Und welche Antwort geben wir ihm darauf? O, möchte doch diese Zeit mit ihren stets wechselnden und vergänglichen Dingen uns nicht so erfüllen, dass diese Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne dadurch vernachlässigt wird. Muss der Herr sich nicht zuweilen traurig von uns abwenden, weil wir zu beschäftigt sind, Sein Klopfen zu hören und Seine Gesellschaft zu wünschen?
Nicht mehr lange können wir Gemeinschaft haben mit dem Herrn in Seiner Verwerfung; bald werden wir ja Teil haben an Seiner Herrlichkeit. Alle die Dinge, welche jetzt so oft unsere Freude in Gott hindern, werden dann ganz vergessen, und unser so oft wankender Glaube wird nicht mehr nötig sein. Endlich, endlich werden wir dann heimgelangen zu Dem, der jenen Ort zu einer Heimat für uns gemacht und dessen Nähe hienieden uns so oft einen Vorgeschmack des Himmels gab.
Bis dahin lasst uns freudig den schmalen Weg der Gemeinschaft mit Ihm wandeln, einsam vielleicht und unter manchem Drucke seufzend. Aber lasst uns nicht ermatten und über dem schnell vorübergehenden Leichten unserer Trübsal nicht das über die Maßen überschwengliche ewige Gewicht von Herrlichkeit vergessen, das unser wartet. Dann wird unsere Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne völlig und beständig sein, und unser Lob und unsere Anbetung werden nie aufhören.