Mein Becher fließt über

«Mein Becher fließt über»

Psalm 23,5

So ruft der liebliche Psalmist Israels aus in diesem wunderbaren Psalm, in welchem er sozusagen das Inventar der Segnungen aufnimmt, die er in dem Hirten seiner Seele besitzt. Nach der Zusammenfassung seiner Reichtümer im 1. Vers, zählt er die, welche ihm am kostbarsten sind, einzeln auf, und sie steigern sich bis zur überfließenden Freude seiner Seele. Diese vier Worte: «Mein Becher fließt über» reden von einem gegenwärtigen Genuss und bilden einen der Höhepunkte dieses Psalmes vor der Erreichung des im letzten Vers beschriebenen Gipfelpunktes: dem Hause Gottes, dem Vaterhause droben. Wie glücklich ist die Seele, die eine solche Höhe im Genusse Christi erreicht hat. Auf diese Weise wird sie dahingeführt, von ganzem Herzen zu sagen: «Wen habe ich im Himmel? und neben dir habe ich an nichts Lust auf der Erde» (Psalm 73,25), oder wie der Apostel Paulus: «Ich achte alles für Verlust wegen der Vortrefflichkeit der Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn» (Phil. 3,8).

«Mein Becher fließt über» will sagen: Meine Glückseligkeit ist vollkommen, ich bin völlig befriedigt. Das erfährt ein Mensch nach der Bekehrung. Nach den Eitelkeiten dieser Welt, die ihn nur enttäuschten und in seinem Herzen eine Leere zurückgelassen haben, findet er in Christo den, der seinen Bedürfnissen in überströmender Weise zu begegnen vermag. Er singt jetzt von ganzem Herzen:

«Mein Herz, zu groß für alle Dinge,
Zu klein, als dass es Dich umfinge!»

Und dieses Bewusstsein wird unsere Herzen bis zum Ende unserer Reise beleben, wenn wir in Seiner praktischen Gemeinschaft und in der Beschäftigung mit Ihm verharren. Der Genuss Seiner anbetungswürdigen Person wird tiefer und tiefer werden, wenn wir in diesem normalen Zustande bleiben.

Aber ist es nicht eine traurige Wahrheit, dass das, was sich in Israel zutrug, sich auch bei uns einstellen kann? Sobald die erste Liebe für Christum abnimmt, macht die Person Christi nicht mehr wie bisher die Wonne der Seele aus. Das Brot aus dem Himmel, das uns anfänglich wie «Kuchen mit Honig» mundete (2. Mose 16,31), kann uns später wie ein bloßer «Ölkuchen» vorkommen (4. Mose 11,8) und schließlich, ach, nennen wir es vielleicht eine «lose Speise», vor der uns «ekelt» (4. Mose 21,5).

«Diese Dinge», sagt die Schrift, «widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist» (1. Kor. 10,11).

Wir führen vielleicht keine solch offene Sprache. Wir sagen nicht: «Uns ekelt vor dieser losen Speise». Aber ob wir diese Dinge mit unserem Munde aussprechen oder ob unsere innere Haltung davon Zeugnis gibt, im Grunde macht das keinen Unterschied aus. Beides ist verwerflich. Mit vielen Dingen, die wir am Anfang unseres christlichen Lebens mit heiliger Abscheu gemieden haben, befreunden wir uns so leicht im Verlauf unserer Lebensreise, – ein untrügliches Zeichen, dass das Thermometer des geistlichen Lebens gefallen ist und Christus unseren Seelen nicht mehr genügt.

Viele Dinge, nach welchen die Welt jagt, um den tiefen Abgrund in ihrem Herzen damit auszufüllen, sind daher auch in unseren Wohnstätten zu finden. Ist es nicht Zeit für einen Alarmruf unter den Kindern Gottes unserer Tage, um ihre Gewissen aufzuwecken? Man findet viele Entschuldigungen, um Dinge gutzuheißen oder beizubehalten, an welchen man nichts Böses findet. Die Fragestellung: «Was ist denn Böses an diesem oder jenem?» ist falsch. Wir sollten fragen: «Ist dieses oder jenes dem Herrn wohlgefällig?» Das ist das richtige Senkblei zur Überprüfung unserer Wege.

Möge der Herr unsere Augen öffnen, um den Zustand zu erkennen, in welchen wir gefallen sind. Denken wir daran: Gott ist eifersüchtig, wenn es um unsere Zuneigungen geht. Bei allem Bewusstsein der Größe Seiner Gnade dürfen wir nicht vergessen, dass Seine Treue Ihn zwingt, uns durch Wege der Züchtigung zurechtzubringen.

Übrigens, ist das Kommen des Herrn nicht sehr nahe? Sollte der Gedanke, Ihn zu sehen, nicht eine reinigende Wirkung auf uns ausüben? Welche Braut möchte ihren Bräutigam, der lange Zeit abwesend war, in einem Hause empfangen, in dem Unordnung herrscht? Seine Wiederkunft, die unserem Herzen so kostbar ist, ist ein Prüfstein für unser Gewissen. «Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist.»

Wie können wir uns von Abwegen zurückfinden? Indem wir uns demütigen vor Ihm, unsere Verirrungen einsehen und bekennen. Dann aber sollen wir dazu übergehen, alles über Bord zu werfen, was nicht in ein Leben der Absonderung für den Herrn hineingehört. Dann wird Christus in unserem Herzen von neuem den ganzen Platz einnehmen, und wir werden in Wahrheit mit dem Psalmisten sagen können: «Mein Becher fließt über».

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