Die Sanftmut und Freundlichkeit des Christus
«Ich selbst aber, Paulus, ermahne euch durch die Sanftmut und Freundlichkeit des Christus.» 2.Kor. 10,1
Wie ganz anders würde das Leben der Gläubigen verlaufen, wenn es nicht durch die «Sanftmut des Christus» beeinflusst wäre! Wir benötigen gewiss Seine unwiderstehliche Macht, die mit einem Wort die schäumenden Wogen zu beruhigen vermag. Auch ist es immer wieder nötig, dass die Gedanken und Regungen unserer trügerischen Herzen durch das scharfe, zweischneidige Schwert, das aus Seinem Munde hervorgeht, bloßgelegt werden. Aber noch weit mehr bedürfen wir der zarten Fürsorge Gottes, die durch Christum in Seiner Niedrigkeit so lieblich geoffenbart worden ist.
Wie wohltuend war es für die Geprüften und Betrübten, dem Herrn Jesus in Seiner Gnade und Liebe zu begegnen! Das war erquickend und erfrischend wie der Tau des Hermon! Wenn wir in einen Abgrund des Kummers und der Traurigkeit zu versinken drohen, kommt uns Seine stützende, allmächtige Hand so wundersam zart zu Hilfe, und ihre Berührung ist so sanftmütig. Kein Arm ist dem Seinen gleich. Keine Stimme vermag uns mit einer solch liebenden Teilnahme zu durchdringen wie die Seine. Die «Sanftmut des Christus» ist Balsam für die verwundete Seele.
Die «Sanftmut des Christus» trat in den Tagen Seines Fleisches überall zu Tage. Gewiss, auch dann war Macht in Ihm, eine unbegrenzte Macht, der nichts zu widerstehen vermochte. Wind und Wellen, die Händler im Tempel, die Häscher in Gethsemane, die Dämonen samt ihrem Fürsten, die Krankheiten und sogar der Tod selbst, alle mussten sich vor diesem «demütigen und sanftmütigen» Menschen beugen.
Aber die Macht, die in Christo geschaut werden konnte, war nicht nur unbegrenzt in ihrer Fülle, sie war auch mit der unendlichen Zartheit einer himmlischen Liebe gepaart. Sie vermochte den Stärksten und Stolzesten zu zerschmettern, aber sie vermochte auch den Geringsten und Schwächsten emporzuheben, so dass selbst das geknickte Rohr nicht gebrochen und der glimmende Docht nicht ausgelöscht wurde. In einer solchen Liebe finden wir starken Trost.
Nichts ist so überaus empfindsam gegenüber einer rohen Behandlung, als ein gebrochenes und blutendes Herz. Aber der Herr war auf der Erde, «um zu verbinden, die zerbrochenen Herzens sind.» Und was für ein geschickter Arzt war Er, sowohl für den Leib als auch für die Seele! Wie gelinde ließ Er «Öl und Wein» in die brennenden Wunden träufeln!
Sieh nur jenes arme Weib zu Seinen Füßen, mitten in der neugierigen Menge, zitternd wegen der heilenden «Kraft», die sie in der Berührung der Quaste Seines Kleides gefunden hatte. «Habe ich das tun dürfen?» fragte sie sich vielleicht. Als sie aber hervortrat und Ihm bekannte, was sie getan hatte, da trafen freundliche, zusichernde Worte ihr Ohr: «Sei guten Mutes, Tochter; dein Glaube hat dich geheilt; gehe hin in Frieden.»
Der Psalmist in alter Zeit sang einst von Goot: «Er kennt unser Gebilde, ist eingedenk, dass wir Staub sind.» Die sanftmüige und liebende Anteilnahme des Heilandes, die sich fortwährend zeigte, bewies, wie Er der Gebrechlichkeit der in Sünde gefallenen Geschöpfe – die Ihn damals umgaben, so, wie sie auch heute noch da sind – eingedenk war und sie kannte. Und wir wissen, dass Er heute noch derselbe ist wie gestern. Ja, wir haben in unseren eigenen Prüfungen schon erfahren, dass Er «innerlich bewegt» war über unsere Krankheiten, und wie sanftmütig Er den Geist der Verzagtheit wegzunehmen und dafür unsern Mund mit Lobpreis zu erfüllen vermochte.
Und wie wir die «Sanftmut des Christus» in der Erleichterung unseres Kummers erfahren durften, so konnten wir auch die Milde Seiner Gnade erleben, als wir gedankenlos und eigenwillig vom Wege abgekommen waren. Wie wissen wir doch alle von Seiner geduldigen, vergebenden Liebe zu erzählen! Sogar in Seinen Vorwürfen kam die «Sanftmut des Christus» zum Vorschein. Seine Worte schonten nicht, waren aber doch auch wieder lindernd und heilend. Wie schön begegnete diese zarte Gnade des Meisters Seinen Jüngern in der Nacht, in der Er verraten wurde! Er suchte die dunkelsten Schatten des Gartens Gethsemane auf und schüttete dort die tiefe Not Seiner Seele «mit starkem Geschrei und Tränen» vor Gott aus. Seine drei hochbegünstigten Jünger Petrus, Jakobus und Johannes wusste Er dabei in Seiner Nähe. Er hatte ihnen gesagt: «Meine Seele ist sehr betrübt bis zum Tode; bleibet hier und wachet mit mir.»
Aber als Er dann zu ihnen zurückkehrte, denen Er doch wenige Augenblicke zuvor soviele himmlische Dinge anvertraut und die Er gebeten hatte, während Seines ringenden Gebetskampfes vor dem Vater mit Ihm zu wachen, fand Er sie schlafend! Er hatte auf Mitleiden gewartet und da war keines, und auf Tröster, und hat keine gefunden, nicht einmal unter diesen Dreien.
Wer kann ermessen, was das Herz des einsamen Herrn bei Seiner Rückkehr empfand, als Er sah, dass sie schliefen? Weder der feurige Petrus, noch der Jünger, den Er liebte, noch dessen Bruder Jakobus vermochten mit Ihm auch nur eine kurze Stunde zu wachen! «Also nicht eine Stunde», sprach Er zu Petrus, «vermochtet ihr mit mir zu wachen?»
Das war ein Vorwurf, den sie gewiss alle reichlich verdient hatten. Sie hatten das Wort des Herrn missachtet und dafür den Ansprüchen des eigenen Leibes Genüge getan. Aber wer außer Christo hätte den Vorwurf in solch sanfte Ausdrücke fassen können? In Seiner Sanftmütigkeit ging Er sogar soweit, den Vorwurf noch mehr zu mildern. Er selber fand eine Entschuldigung für sie. Er wusste, dass ihre Herzen wegen Seines nahe bevorstehenden Abschiedes mit Schmerz erfüllt waren. Er begriff, dass ihre Augen dieserhalb beschwert und ihr Leib müde sein musste. So fügte Er in Seiner Sanftmut hinzu: «Der Geist zwar ist willig, das Fleisch aber schwach.»
Geliebte, wir wollen die «Sanftmütigkeit des Christus» nicht vergessen. Er ist es, der nun unser Sachwalter ist beim Vater. Er ist es, der sich für uns verwendet. Er ist es, der sich Tag für Tag selber um unser Wohlergehen kümmert.
Noch mehr, lasst uns danach trachten, auch in uns diesen Geist der Sanftmut, der in Christo Jesu war, zu haben. Lasst uns «als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte: herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Langmut» anziehen, «einander ertragend und euch gegenseitig vergebend, wenn einer Klage hat wider den andern; wie auch der Christus euch vergeben hat, also auch ihr» (Kol. 3,12.13).
Wenn diese Dinge in uns sind, werden wir die Aufforderung des Apostels in Philipper 4,5 erfüllen: «Lasst eure Sanftmütigkeit kundwerden allen Menschen.»