Der heidnische Grundsatz

Der heidnische Grundsatz

Was herrschte in der Welt vor dem ersten Kommen Jesu Christi? Die heidnischen Religionen? Nein, mehr als das. Da regierte der heidnische Grundsatz, der allem Heidentum und aller Auflehnung gegen Gott zu Grunde liegt.

Lasst uns versuchen, diesen Grundsatz zu definieren. Er ist die Bezeichnung für das menschliche Streben, ohne den lebendigen, allein wahren Gott zu leben. Das Herz des natürlichen Menschen schreckt davor zurück, und wir alle haben das wohl schon erfahren, allein in die Gegenwart Gottes zu treten. Er ist bereit, alles Mögliche zu tun, um diesen direkten und persönlichen Kontakt mit Ihm zu umgehen.

Gib dem Menschen den Pantheismus (die Lehre, dass Gott und die Welt eins seien), der seit vielen Jahrhunderten in der östlichen Welt vorherrscht: der heidnische Grundsatz wird dadurch keineswegs aus seinem Herzen vertrieben. Denn im Pantheismus findet sich kein persönlicher und heiliger Gott, in dessen Gegenwart das Gewissen erzittern muss.

Gib ihm den Polytheismus (Vielgötterei) des alten Ägypten oder Syrien, welcher Naturkräfte in Götter verwandelt: das heidnische Prinzip verträgt sich auch damit aufs Beste. Gib ihm den griechischen oder römischen Polytheismus, der den Menschen zum Gott macht: Auch mit diesem geht der heidnische Grundsatz Hand in Hand. Denn ein Mensch, auch wenn er zum Gott erhoben wird, ist immerhin ein Mensch. Man kann diese Religionen annehmen, ohne im Entferntesten mit dem lebendigen Gott in Verbindung zu treten.

Ich gehe noch einen Schritt weiter. Wir mögen wahre Religionen zu den unsrigen machen und dabei doch nach dem heidnischen Grundsatz leben. Ein Beispiel hiefür ist der Pharisäer. Er anerkennt viele wahre Lehren über Gott. Aber er hat zwischen Gott und seiner eigenen Seele eine undurchdringliche Mauer aufgebaut: seinen Formalismus und seinen religiösen Hochmut.

Auch der Rationalist borgt sich manchen richtigen Gedanken aus der christlichen Offenbarung. Aber er selbst will darüber Richter sein, indem er das gelten lässt, was ihm gefällt, und anderes, was ihm nicht passt, verwirft. Er hat die menschliche Vernunft an den Platz Gottes gesetzt.

Wir dürfen noch weiter gehen. Das Heidentum im Herzen des Menschen hat einen noch sicheren Weg gefunden, auf dem es ihn zufriedenstellen kann: Es hat aus der Religion eine nationale Angelegenheit gemacht. Das ist die beste Methode, um den Menschen von einer persönlichen Begegnung mit Gott fernzuhalten.

Ist die Religion nationaler Art, so kann sich der heidnische Grundsatz recht gut damit vermischen. Er lässt sich durch kein totes Glaubensbekenntnis fernhalten, nicht einmal durch die vollständigste und rechtgläubigste Lehre des Christentums, wenn sie nur äußerlich angenommen wird. Ein solches Christentum ist ja nicht das Meinige und nicht das Deinige, sondern die christliche Glaubensanschauung unseres Landes oder unserer Familie. Es ist nicht mehr eine Frage der Bekehrung oder des Glaubens. Es ist eine Hinterlassenschaft unserer Vorväter und eine Frage der Anerziehung.

Blicken wir nur in die eigenen Herzen! Gegen welche Forderung des Evangeliums richtet sich der natürliche Widerstand? Vor was schreckt der Mensch am meisten zurück? Vor Formen und Zeremonien, vor dem äußerlichen Festhalten überkommener religiöser Einrichtungen? Nein, er scheut sich davor, sich selbst hinzugeben. Gerade das wäre aber der eigentliche christliche Grundsatz, gemäß welchem das Menschenherz als völlig verderbt und in Auflehnung gegen Gott erkannt wird und gemäß welchem das Gute in der Bekehrung und Rückkehr zu Gott besteht.

Es gibt in der Welt mehr Übereinstimmung als wir meinen, im Guten sowohl, wie auch im Bösen. Ist es dir noch nie aufgefallen, dass in geistlicher Hinsicht der persönliche Glaube allem Guten zu Grunde liegt, wie anderseits auch die Lehre des kollektiven Glaubens die Quelle alles Bösen ist? Das, was im ersten Fall zur Verwirklichung des allgemeinen Priestertums der Gläubigen, zum wahren Begriff der Sittlichkeit, zur freien Hingebung des Herzens geführt hat, ist der christliche Grundsatz. Was aber zur Bildung einer Priesterklasse, zu Konventen, zum Römischen Katholizismus und zur Knechtschaft der Seelen geführt hat, ist der heidnische Grundsatz. Der erste ist individuell, der zweite kollektiv.

Wenn gewisse Christen in den ersten Jahrhunderten der Kirche – wir hoffen, dass es deren viele gegeben hat! – die Abkehr von der apostolischen Ordnung anprangerten, – wenn sie den alten heidnischen Geist angriffen, der wieder Boden gewann, – wenn sie voraussahen, dass in nächster Zukunft sogenannten Sakramenten magische Bedeutung zugeschrieben werde, dass die menschliche Überlieferung und die menschliche Autorität einer Priesterhierarchie an Macht gewinnen werde – so wird die Mehrzahl der Christen über solche Schwarzseher den Kopf geschüttelt haben; denn es ist nur wenigen bekannt, wie verhängnisvoll sich kleine Abweichungen auswirken. «Lasst doch diese engstirnigen Leute, die nur darauf aus sind, nach kleinen Fehlern zu suchen!» wird man vielleicht gesagt haben.

Ja, den kleinen Abweichungen folgten die größeren auf dem Fuße. Und wer hat ihnen zur Entstehung verholfen? Die verehrten und als gottesfürchtig gerühmten Kirchenväter! Sie lebten durch Glauben, aber begannen ihn zu zerstören. Sie gaben ihr Leben für das Evangelium hin, waren aber gleichzeitig auch die Urheber böser Lehren, die sich entwickelten und in späteren Zeiten dem Evangelium widerstehen sollten. Denken wir nur an die große Abirrung von der Wahrheit, die in der Kirche Roms ihren vollkommenen Ausdruck gefunden hat! Ihr Anfang geht auf die harmlos scheinenden Neigungen der frühen Väter der Kirche zurück, die sich in den nachfolgenden Jahrhunderten ständig weiterentwickelt haben. Die Wahrheit der Rechtfertigung aus Glauben, die man am Anfang festhielt, wurde nach und nach von der Rechtfertigung durch Sakramente und durch Werke verdrängt. Zuerst der Heiland – der eine Heiland – dann andere und immer mehr Fürsprecher, andere Verdienste. Zuerst als Beginn die Wiedergeburt, später aber traten die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die Beobachtung von Formen, das Halten von Zeremonien an ihre Stelle. Zuerst die Versammlung Gottes, dann nach und nach eine Staatsreligion der Überlieferung. Zuerst die Taufe als der Ausdruck eines rettenden Glaubens; nach und nach aber wurde sie vom Glauben getrennt und zu einem Mittel der Errettung gemacht. Zuerst die für alle geöffnete und für alle bindende Heilige Schrift, später aber die Dekrete der Konzilien und die Macht der Überlieferung. Zuerst das allgemeine Priestertum der Gläubigen, dann, nach und nach die Ausscheidung einer Priesterklasse.

So ging die Zeit dahin, und als «die Taufe zur Wiedergeburt» schließlich zur Lehre erhoben wurde, da war die Einführung des heidnischen Grundsatzes zur vollendeten Tatsache geworden. Der Mensch musste Gott nun nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüber treten; die Taufe diente nicht länger nur als Ausdruck des persönlichen Glaubens, sondern war zu einem Mittel magischer Umwandlung geworden, in welcher der Glaube keinen Platz mehr hat. Von diesem Augenblick an war die Grenzmauer zwischen der Kirche und der Welt durchbrochen, eine Religion menschlicher Überlieferung war an die Stelle der Anbetung Gottes «in Geist und Wahrheit» getreten.

Und wie steht es in den Ländern, wo sich der Protestantismus ansässig gemacht hat? Nie war es schwieriger als heute, evangelisches Christentum nicht nur zu bekennen, sondern auch wirklich ernst zu nehmen. Der heidnische Grundsatz vermag sich unter dem Deckmantel eines äußeren Bekenntnisses zum Evangelium sehr wohl breit zu machen. Es ist gleichgültig, in welcher Form das Bekenntnis auftritt, wenn nur der persönliche Glaube und die echte Herzensbekehrung aus dem Spiele bleiben. Protestanten und Katholiken haben gleicherweise den Grundsatz der Versammlung Gottes, der schon in den ersten Jahrhunderten verlassen wurde, außer acht gelassen.

Keine Epoche der Kirchengeschichte – verzeiht mir diesen anscheinenden Widerspruch – ist in bezug auf den Ernst, das Ausmaß, die Tiefe und den dauernden Einfluss des Bösen, das damals alles durchdrungen hat, mit den ersten drei Jahrhunderten vergleichbar. Es war die Epoche der Wiederherstellung des heidnischen Grundsatzes und seiner Einführung in die Kirche Gottes. Die Wahrheit von der Versammlung, des Leibes Christi, war die erste, die verschwand und die letzte, die nach der Reformation wieder auf den Leuchter erhoben wurde. Dies beweist, dass diese Wahrheit der große Gegner des Heidentums im Menschenherzen ist.

Was ist die Kirche im Sinne der Heiligen Schrift? die Versammlung der Christen, die durch den Heiligen Geist zu einem Leibe getauft worden sind. Und was ist ein Christ? Ein Mensch, der an Jesum Christum glaubt, und der auf Grund dieses Glaubens an Ihn und Sein Werk durch den Heiligen Geist versiegelt worden ist. Er ist vom Tode in das Leben hinübergegangen. Er ist wiedergeboren. Er hat sich zu Gott bekehrt. Die Kirche ist also die Versammlung von bekehrten Menschen, eine wunderbare Erscheinung in einer Welt die nur nationale und kollektive Religionen gesehen hat, eine Erscheinung unter Menschen, die auf die gleiche Weise «Christen» wurden, wie sie Bürger ihres Landes geworden sind und deren unpersönliches Glaubensbekenntnis eine Selbstverständlichkeit ist.

Die Versammlung Gottes setzt bei allen, die zu ihr gehören, eine direkte Beziehung mit Gott voraus. So war es für eine kurze Zeit in den Tagen der Apostel. Damals hatte noch kein Mensch einen Glauben erfunden, den unbekehrte Christen ohne Wiedergeburt annehmen konnten. Die Kirche gründete sich auf die Tatsache der Bekehrung. Der heidnische Grundsatz aber begann die Forderung einer Bekehrung zu unterhöhlen. Er brachte Christen als Glieder der Kirche hervor, die nicht Kinder Gottes waren. Er versprach Reinigung und Errettung durch Sakramente aus der Hand von Priestern. Die Kirche war nicht länger eine Versammlung derer, die gerettet waren. Sie war ein großes Gebilde geworden, das allen Menschen, die bereit sind, ihre Bekenntnisformeln nachzusagen, sich einer sakramentalen Umwandlung und einer menschlichen Führung zu unterziehen, weit offen steht.

Das war das Werk Satans schon in den ersten Jahrhunderten. Der christliche Grundsatz, die Versammlung, war aus dem Blickfeld der Christenheit verschwunden, und der Feind konnte nun die Lehre selbst angreifen. Der Glaube war nicht länger mehr eine persönliche Sache, und auch der Gedanke der Rechtfertigung aus Glauben ging verloren. Das Heil wurde in Orthodoxie, Wahrheit in Überlieferung, die Ältesten der ersten Kirche in eine Hierarchie verwandelt, und im Laufe der Jahrhunderte folgten noch viele andere Irrtümer. So begann und so setzte sich die Verweltlichung der Christenheit fort. Die bekennende Kirche sank auf das Niveau der Welt hinab. Sie fand am Heidentum des Herzens, an den Zeremonien, am Formenwesen, an der aufgezwungenen Wiederholung von Glaubensbekenntnissen, die keinen rettenden Glauben an Christum voraussetzen, nichts Tadelnswertes mehr. Und in einem solchen leblosen Bekenntnis fühlen sich Seelen, die kein Leben aus Gott besitzen, zu Hause.

Anfänglich hatte das äußere Bekenntnis eine kurze Zeitspanne lang mit dem inneren Leben übereingestimmt. Bald aber breitete sich ein Namenschristentum aus, dem das Leben aus Gott fremd war, und schließlich waren die Christen, die ewiges Leben besaßen, nur eine kleine Minderheit darin. Die wahre Kirche, die gleichbedeutend ist mit dem Leibe Christi, wie auch die unechte Kirche, die ihr Widerpart ist, bilden nun zusammen das christliche Bekenntnis. Beide sind für den Namen, durch den sie berufen worden sind, verantwortlich. Aber zwischen beiden besteht nach dem Urteil Dessen, der Augen hat wie eine Feuerflamme und der das Böse vom Guten unterscheidet, ein so großer Unterschied, wie zwischen Licht und Finsternis. Die wahre Kirche wird Er sich selbst ohne Flecken oder Runzeln verherrlicht darstellen. Die andere aber wird Er für immer aus Seinem Munde ausspeien.

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