Der Dienst der
Wiederherstellung
«Brüder! wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringet ihr, die Geistlichen einen solchen wieder zurecht im Geiste der Sanftmut… Meine Brüder, wenn jemand unter euch von der Wahrheit abirrt, und es führt ihn jemand zurück, so wisse er, dass der, welcher einen Sünder von der Verirrung seines Weges zurückführt, eine Seele vom Tode erretten und eine Menge von Sünden bedecken wird» (Gal. 6,1; Jak. 5,19.20).
In der Versammlung Gottes «lebt keiner von uns sich selbst» (Röm. 14,7). Jede Seele ist in der geistlichen Entwicklung von allen andern abhängig, und jede trägt zum geistlichen Wohlbefinden der übrigen bei. Der Leib Christi ist ja ein organisches Ganzes. «Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit» (1. Kor. 12,26). Angesichts dieser korporativen Einheit des Geistes und dieser engen gegenseitigen Abhängigkeit der Glieder ermahnt uns der Apostel: «Also lasst uns nun dem nachstreben, was des Friedens ist, und dem, was zur gegenseitigen Erbauung dient» (Röm. 14,19). Überdies lernen wir aus anderen Schriftstellen, dass diese Pflicht der gegenseitigen Hilfsbereitschaft die besondere Verantwortung einschließt, auf jene Seelen in der Versammlung zu achten, die vom Pfade des Gehorsams gegenüber der Wahrheit abweichen.
Es hat einer einen Fehltritt getan
Der Apostel ermahnte die Brüder in den Versammlungen von Galatien ernstlich, achtzugeben auf einen Menschen, der von einem Fehltritt übereilt wird, und seine Wiederherstellung zu suchen.
Nehmen wir an, ein solcher Fall liege vor. Aus Unwachsamkeit oder Unwissenheit, durch Versuchung oder Fallstrick ist einer gestrauchelt und gefallen. Er hat eine Sünde begangen. Er hat im Wort oder in der Tat gefehlt, vielleicht in beiden. Er hat eine böse Lehre, die der Unterweisung des Geistes im Worte Gottes entgegengesetzt ist, in sich aufgenommen. Infolgedessen ist dieser Mensch durch seinen eigenen Fehler für die geistliche Entwicklung der Versammlung zum Hindernis statt zur Hilfe geworden. Was ist zu tun? Die Gesinnung des Fleisches ist am Werk und führt den Menschen immer mehr in die Irre. Wenn das Böse nicht beachtet und gerichtet wird, gerät der Übertreter immer mehr unter seine Macht und es wird seinen verheerenden Einfluss auch auf andere in der Versammlung ausüben. Die galatischen Christen neigten zum Gesetz, und das Gesetz Moses kannte für die Übertreter keine Gnade. Unter ihm fand jede Übertretung und jeder Ungehorsam gerechte Vergeltung (Hebr. 2,2). Wer aber in Christo ist, befindet sich nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade. Gnade sucht Heilung, nicht Vergeltung; und wahre Liebe freut sich darin, das Böse, das in dem Menschen wirksam ist, durch die gute Frucht der Liebe, die aus Gott ist, zu ersetzen.
Ein Aufruf an die Geistlichen
Aber wer in der Versammlung ist verantwortlich, diesen Dienst der Wiederherstellung zu tun? Der Apostel legt ihn auf die Geistlichen in den Versammlungen. «Bringet ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geiste der Sanftmut!» Ihre Aufgabe ist es, das schlafende Gewissen des Übertreters aufzuwecken, ihm mit der Wahrheit und dem Zeugnis Christi in solcher Gnade zu dienen, dass in dem Übertreter Reue und Bekenntnis hervorgebracht werden. Er wird durch das sanfte Drängen der Gnade viel eher hergestellt, als durch die scharfe Härte des Gesetzes.
Wer aber zählt zu den «Geistlichen»? Der Apostel erklärt diesen Begriff in den Versen, die seinem Gebot unmittelbar vorausgehen. In Kapitel 5,16-26 unterscheidet er zwischen denen, deren Wege vom Geiste regiert werden und denen, deren Werke fleischlich sind und ihrem eigenen Fleische oder ihrer bösen Natur entspringen. Die Geistlichen sind jene, in denen der Heilige Geist der Führer und die Kraft ihres Lebens ist. Sie wandeln im Geiste (Vers 16). Sie werden durch den Geist geleitet (Vers 18). Der Geist bringt in ihnen eine neunfältige Frucht hervor: «Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit» (Verse 22,23). Diese edlen Eigenschaften der Gnade, die in dieser Welt so ungewöhnlich sind, wurden durch unseren Herrn Jesus ununterbrochen und in Vollkommenheit dargestellt. Der Heilige Geist kam in Gestalt einer Taube auf Ihn hernieder und blieb auf Ihm für Seinen Dienst und Sein Zeugnis unter den Menschen. Die Geistlichen besitzen Ihn auch; «denn wenn jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein» (Röm. 8,9).
Der Geist der Sanftmut
Zur Zurechtbringung eines Menschen, der abgewichen ist, bedarf es der Weisheit und des Taktes. Die Worte wie auch das Auftreten des «Geistlichen» müssen christusähnlich sein. Der ganze Dienst muss in einem Geiste der Sanftmut geschehen. Hüte dich vor dem Stolz der Pharisäer und der Selbstgefälligkeit der Sadducäer! Die Stimme dessen, der helfen möchte, sollte die Stimme eines Bittenden und nicht die eines Befehlenden sein. In seinem Herzen sollte vielmehr Mitleid mit dem Übertreter als Verurteilung sein. Es ist der Dienst der Gnade im Geiste der Sanftmut, der die abgeirrte Seele auf die Pfade der Gerechtigkeit und der Wahrheit zurückführt. Nur im äußersten Fall eines verhärteten «Bösen» hatte der Apostel die Rute der Zucht gebraucht, anstatt «in der Liebe und im Geiste der Sanftmut» zu kommen (1. Kor. 4,21).
Der Apostel fügte für die «Geistlichen» ein Wort der Warnung bei, das sie persönlich zu beachten haben: «Indem du auf dich selbst siehst dass nicht auch du versucht werdest.» In auffallender Weise wendet er sich von den «Geistlichen» zu dem Einzelnen – «du selbst». Wer mit den Fehlern anderer beschäftigt ist, steht in Gefahr, seine eigene Schwachheit zu vergessen. Wer aber den Splitter aus seines Bruders Auge ziehen möchte, wird daran gehindert, wenn er nicht zuvor den Balken aus seinem eigenen Auge entfernt. «Indem du auf dich selbst siehst», sagt Paulus, und Jakobus fügt bei: «denn wir alle straucheln oft» (Kap. 3,2). Der Geistliche darf es weder an Mitgefühl für den Irrenden, noch auch an schonungslosem Selbstgericht über seine eigenen Sünden fehlen lassen.
Von der Wahrheit abirren
Jakobus setzt am Schluss seiner überaus praktischen Epistel den Fall voraus, dass eine Seele «von der Wahrheit abirren» kann. Er hebt den großen geistlichen Wert des Dienstes hervor, der den Irrenden zurückführt. Der treue und weise Bruder, der ihn ausübt, soll wissen, dass er dadurch «eine Seele vom Tode erretten und eine Menge Sünden bedecken wird.» Nicht nur ist der Irrende in die glückliche Gemeinschaft mit seinen Brüdern zurückgekehrt, er ist auch von den gerechten Folgen befreit, von denen er nach den Regierungswegen Gottes für sein Abirren von der Wahrheit betroffen worden wäre.
Das Werk der Rettung von der knechtenden und zerstörenden Macht der Sünde wird von Jakobus im weitesten Sinne gesehen und umschließt sowohl Gerettete als auch Unbekehrte. Der «Sünder», der «von der Verirrung seines Weges» zurückgeführt wird, mag ein irrender Gläubiger oder auch ein Mensch sein, der sich jetzt erst bekehrt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen. In beiden Fällen wird die Seele vom Tode errettet, welcher der gerechte Lohn der Sünde ist; denn «die Seele, welche sündigt, die soll sterben» (Hes. 18,4. 20, vergl. auch 1. Joh. 5,16.17). Darum ermuntert der Geist Gottes den Diener in seinem Werk der Liebe für den Umherirrenden durch die Erinnerung an die Wahrheit, «dass der, welcher einen Sünder von der Verirrung seines Weges zurückführt, eine Seele vom Tode erretten wird».
Diesem herrlichen Ergebnis eines selbstverleugnenden Dienstes wird ein zweites hinzugefügt: «und wird eine Menge von Sünden bedecken». Gott anerkennt in Seinen Wegen der Vorsehung den Wert des Dienstes der Liebe, durch den eine Menge von Sünden bedeckt werden.
Wessen Sünden werden bedeckt? Nicht die Sünden des Bruders, der den Abgeirrten zurückführt – wie seltsamerweise gelehrt wird – sondern jene des Irrenden, die dieser schon begangen hat oder auf seinem falschen Wege noch ausgeübt hätte. Nach göttlicher Einschätzung ist die Wiederherstellung und Reinigung des Schuldigen eine Tat von höchstem Wert. Unser Herr zeigte den Pharisäern und Schriftgelehrten, dass ein bußfertiger Sünder auf der Erde vor den Engeln im Himmel eine unaussprechliche Freude auslöst (Luk. 15,7.10).
Ist kein Balsam in Gilead?
Warum wird heutzutage, trotz dieser göttlichen Ermunterung, dieses gesegnete Werk der Wiederherstellung von Seelen, so wenig getan? Gibt es denn so wenige unter uns, die in dem beschriebenen geistlichen Zustand sind und von tiefstem Herzen wünschen, den von einem Fehler Übereilten wieder zurückzubringen? Alle von uns wissen, dass des Herrn Hand nicht zu kurz ist, um eine Seele vom Tode zu erretten. Aber ach! Sind wir Brüder und wir Schwestern willens und bereit, in Seiner Hand Werkzeuge zu einem solchen Dienst zu werden? Infolge unserer Nachlässigkeit in dieser Hinsicht können die Handlungen des Fleisches, die Lockungen der Welt und die listigen Anläufe Satans sich ungehindert entfalten, um unwachsame oder schwache Seelen von der Herde Christi wegzuziehen und zu verderben.
Lasst uns nicht nur trauern über die, welche sich nicht mehr mit uns versammeln, sondern auch im Geiste der Sanftmut und Weisheit Christi für die Rückkehr zum geistlichen Wohlbefinden derer besorgt sein, die noch in unserer Nähe sind. Dass uns doch die Klage Gottes gegenüber Seinem irdischen Volke tief zu Herzen ginge: «Ist kein Balsam in Gilead, oder kein Arzt daselbst? Denn warum ist der Tochter meines Volkes kein Verband angelegt worden?» (Jer. 8,22).