Die letzten Tage des Apostels Paulus
2. Timotheus 4,6-22
Der Bericht über die Erfahrungen des Apostels Paulus in den letzten Tagen seines Dienstes geht uns besonders zu Herzen. Er hatte während seiner langen Laufbahn in dem Evangelium des Sohnes Gottes treu gedient, hatte den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet und den Glauben bewahrt. Und nun wartete dieser große Apostel der Nationen, angekettet in einem Kerker in Rom, geduldig auf den Augenblick seines Abscheidens (2. Tim. 4,6).
Wie viele Leiden hatte er doch für seinen verherrlichten Meister ertragen, der ihm vor so vielen Jahren auf der Straße nach Damaskus erschienen war und ihm in jenen Tagen gezeigt hatte, was er für Seinen Namen alles werde leiden müssen! Alle diese Erfahrungen waren zu Wasser und zu Land über ihn gekommen. Nur eine Erfahrung hatte er jetzt noch durchzukosten, bevor er vollendet war (Phil. 3,12). Er musste wie sein Meister – welches Vorrecht! – auf dem einsamen Pfade der Verwerfung durch den Tod gehen.
Seiner Entbehrungen, Verfolgungen und Drangsale waren viele gewesen. Aber nun sollte das weite, liebende Herz des Apostels noch die kalte Haft in römischen Kerkermauern und die Vereinsamung eines verlassenen Führers erleben. Er musste den ins Innerste schneidenden Schmerz der Verwerfung erfahren, dem er in den klaglosen, ergreifenden Worten: «Alle, die in Asien sind, haben sich von mir abgewandt», Ausdruck gab. Seine brennende Liebe für die Versammlungen und die Einzelnen vergalten sie ihm mit Vernachlässigung und mit der Abkehr von ihm.
Allein gelassen mit seinem Meister und seinen Ketten, sehnte sich sein Herz nach seinem geliebten Kinde Timotheus (2. Tim. 1,4), dessen Tränen ihn aufs Tiefste gerührt hatten. Ach, der Dienst des Apostels, der in Kraft begann, endete in Tränen! Schmerzliche Tatsache! Doch in solchen Tränen waren Tiefen der Liebe Christi verborgen, die sich ihm in den Tagen der Kraft nicht kundgetan hatten. In diesem zweiten Briefe sehen wir die Seele des Paulus seinem geliebten Timotheus zustreben, den er dringend ersucht, bald zu ihm zu kommen (2. Tim. 4,9). Er gab ihm darin Nachrichten über seine Umstände, die auch uns bewegen, wenn wir einen Augenblick über deren Bedeutung nachdenken.
Demas, der einst den Heiligen in Kolossä seinen Gruß der christlichen Liebe zusandte (Kol. 4,14), hatte sich jetzt von der Nachfolge des abwesenden Herrn abgewandt und wollte nicht länger für einen Gefährten des verlassenen Apostels gehalten werden. Der gegenwärtige Zeitlauf war ihm lieb geworden. Nichts vermochte seine Schritte aufzuhalten; er ging nach Thessalonich. Wie traurig! Wie verwerflich muss der Erwerb dessen, was dieser Zeitlauf uns bieten kann, doch sein, wenn das Wort Gottes deswegen den Namen dieses Mannes für immer mit dem üblen Merkmal belastet: «Er hat den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen.» Der Tag Christi wird das Traurige an diesem Abweg des Demas vollends offenbaren (2. Tim. 4,10).
Weshalb Krescenz nach Galatien ging, wird uns nicht mitgeteilt. Auch sind uns die Gründe, die Titus nach Dalmatien führten, unbekannt. Die nackte Tatsache ihres Weggehens wird vor uns hingestellt, und diese ist beredt genug. Was immer auch die Beweggründe zu diesen Reisen gewesen sein mögen, ihr Ergebnis war traurig: Der Apostel Paulus wurde mit seinem Meister, seinem Zeugnis und seinen Ketten allein gelassen.
Lukas, der sich mit Demas in den Grüßen an die Kolosser vereinigt hatte, ließ sich durch den weltlichen Kurs seines Gefährten von seinem Weg der Treue nicht ablenken. «Lukas ist allein bei mir.» Er, der in steter und enger Gemeinschaft mit dem Apostel voranging, wich auch nicht von ihm, als er ein Gefangener war. Diese edle Gesinnung hatte er ja schon auf dem alexandrinischen Schiffe bewiesen (Apostelg. 27). So hielt «der geliebte Arzt» die Gemeinschaft mit dem Apostel bis zur Stunde seines Abscheidens aufrecht. Es gab jetzt für ihn Werke zu tun, die am Tage Christi in leuchtenden Farben offenbar werden, obwohl sie an einem Tage der Verwerfung, im verborgenen Schatten eines römischen Gefängnisses für einen verlassenen Diener des Herrn getan wurden.
Timotheus sollte Markus mit nach Rom bringen. Er konnte jetzt Paulus nützliche Dienste leisten. Seit dem Tage, da er von Paulus und Barnabas gewichen und nicht mitgegangen war zu dem Werke in Pamphylien, hatte er zweifellos seine Lektion gelernt. Wenn Timotheus und Markus bei ihm einträfen, würde Paulus für einige Augenblicke, kurz vor seinem Abscheiden, inmitten der dunklen Schatten, die ihn umgaben, etwas Erleichterung finden… Aber Timotheus müsste vor dem Winter kommen. O Timotheus, da es dich doch drängt, beeile dich, um rechtzeitig bei dem Apostel einzutreffen, dass du ihm während der langen Wintermonate zum Trost sein kannst! Wenn deine Reise auf das nächste Jahr verschoben würde… Wer weis?
Tychikus, ein geliebter Bruder, ein treuer Diener und Mitknecht in dem Herrn, der einst mit dem Auftrag nach Kolossä gesandt worden war, die Umstände der dortigen Versammlung zu erfahren und die Herzen der Geschwister zu trösten (Kol. 4,7. 8), der auch bereit gewesen war, nach Kreta gesandt zu werden, um Titus dort zu entlasten, war im Auftrag des Apostels nach Ephesus gereist (Titus 3,12). Vermutlich sollte er dort den Platz des Timotheus einnehmen, der nun für eine Zeit nach Rom kommen würde. Das Schmerzliche dabei war nur, dass der Apostel durch diese Vereinbarung noch einsamer wurde. Aber persönliche Empfindungen durften nicht in Betracht fallen, und der Apostel stellte in seiner echten Hingabe an den Leib des Christus die Bedürfnisse der Versammlung in Ephesus vor die Ansprüche seines eigenen Wohlbefindens.
Und dann war da noch jener Mantel, den er in Tagen größerer Tätigkeit bei Karpus in Troas zurückgelassen hatte. Er hätte ihn dringend nötig gehabt, um sich gegen die feuchte Kühle seines Kerkers zu schützen. Der alternde Apostel fröstelte bei jeder Unbill der Witterung. Konnte ihm denn, so sind wir versucht zu fragen, keiner der Brüder von der Versammlung in Rom einen Mantel bringen und um seine Schultern legen, so dass sein Körper nicht zu frieren brauchte? Wir wissen es nicht. Wie dem auch sei, er musste den Mantel von Troas kommen lassen und hoffte, Timotheus würde noch vor dem Winter eintreffen und ihn mitbringen (Verse 13 und 21).
Er benötigte auch die Bücher und besonders die Pergamente. Mochte der Geist des Apostels noch so groß sein und mächtig wie seine Offenbarungen – er bedurfte dennoch der Bücher des Wortes Gottes. Sie enthielten die Ermunterung der Schriften; und die Wände des Gefängnisses sollten Zeugen werden, wie der erfahrene Kämpfer immer und immer wieder die unvergänglichen Aussprüche der Propheten las und sich mit dem Schwert des Geistes beschäftigte, das er in der Sache des Evangeliums so geschickt und kraftvoll zu handhaben gewusst hatte. – Vielleicht darf man annehmen, dass Paulus die Schriften des Alten Testamentes schon immer bei sich hatte und es sich bei diesen «Büchern» um nicht inspirierte Werke handelte, die er hier zu irgend einem besonderen Zweck benötigte. Die Pergamente waren vermutlich noch unbeschrieben und sollten wohl zur bleibenden Niederschrift von apostolischen Lehren dienen.
Timotheus sollte sich vor Alexander, dem Schmied, hüten. Das war ein Widersacher der Wahrheit. Aber der Herr werde ihn in die Hand nehmen, und ihn dafür strafen: «Der Herr wird ihm vergelten nach seinen Werken… denn er hat unseren Worten sehr widerstanden.» Das Zeugnis der Wahrheit soll den Vortritt haben. Wer seine Hand darauf legt und seine Fortschritte zu hindern sucht, geht einem dunkeln Tage entgegen.
Aber wenn der Angriff Alexanders gegen das Zeugnis bei dem Apostel auf eine kompromisslose Verurteilung stieß, so rief die persönliche Geringschätzung, die er seitens der Brüder erfuhr, bei ihm die gleiche Gnade hervor, die auf seinem Meister ruhte und auch bei Stephanus, dem ersten Märtyrer, zum Vorschein kam: «Bei meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei, sondern alle verließen mich; es werde ihnen nicht zugerechnet.»
Da war jedoch Einer, der ihm beistand und sich mit diesem betagten Zeugen einsmachte. Es war der Herr, der sich einst auch mit den verfolgten Christen identifizierte, als Er auf der Straße nach Damaskus Seine Hand auf den pharisäischen Eiferer legte. Er stärkte ihn. Die Predigt wurde durch ihn vollbracht; alle die aus den Nationen konnten sie hören. Und wieder einmal in der Geschichte der Heiligen Gottes wurde, wie in der Grube in Babel, dem Rachen des Löwen die Beute entrissen: «Ich bin gerettet worden aus dem Rachen des Löwen.»
Der Apostel vermisste auch andere Brüder. Erastus blieb in Korinth. Trophimus aber hatte er in Milet in der Schule seines Herrn krank zurücklassen müssen.
Paulus, der Apostel, wurde allein gelassen, aber er war nicht allein. Hier, in der tiefsten Ebbe menschlicher Beziehungen erfuhr er die Wirklichkeit dessen, was er Jahre zuvor gerade diesen Gläubigen in Rom geschrieben hatte: «Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi? Drangsal oder Angst oder Hungersnot oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?…» (Römer 8,35-39).